Matthias Petzold
Vortrag auf der BAG der Kinderschutz-Zentren am 30.11.2001
Verändern die neuen Medien das Sozialverhalten der Kinder?
Gliederung:
1. Familie heute
2. Mediennutzung in der Familie
3. Internetnutzung von Kindern
und Jugendlichen
4. Eigene Ergebnisse zu Persönlichkeitsmerkmalen
und Computernutzung
5. Internet-Sucht - eine
allgemeine Gefahr?
6. Chancen und Gefahren
neue Medien
7. Perspektiven für
Präventionsarbeit
Literatur
Abstract:
Nach einem Blick auf die Vielfalt der Lebensformen in der Familie heute
werden Daten und Forschungsergebnisse zur Mediennutzung in der Familie berichtet,
speziell im Hinblick auf die Computer- und Internetnutzung von Kindern und
Jugendlichen. Eigene Ergebnisse zu Persönlichkeitsmerkmalen und Computernutzung
verdeutlichen, dass es keine allgemeine Auswirkung des Mediums auf den Menschen
gibt. Die in letzter Zeit häufig beschworene allgemeine Gefahr einer
"Internet-Sucht" wird - auch mit Hinweise auf neueste Untersuchungen widerlegt.
Schließlich werden zusammenfassend Chancen und Gefahren der
Medien abgewogen und einige Aspekte der Perspektiven der Prävention
aufgezeigt.
Adresse des Autors:
Prof. Dr. Matthias Petzold
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Erziehungswissenschaftliches Institut
Universitätsstr. 1
40225 Düsseldorf
http://www.m-pe.de
1. Familie heute
Wenn man über die Auswirkungen der Medien auf Kinder und Jugendliche
spricht, dann muss man nicht nur über die Medien sprechen, sondern
auch über die Familie selbst. Die Struktur der Familie hat sich in
ihrer Entwicklung während der letzten beiden Jahrhunderte mehrfach gewandelt,
hat sich aber insbesondere in den letzten Jahren sehr geändert. Während
bis in die 60er-Jahre das Modell vorherrschte, dass sich die Mutter als Hausfrau
um die Kinder kümmerte und die Väter die "Brötchen verdienten",
hat sich dies in den letzten Jahren geändert. Nicht nur Väter
sind berufstätig, sondern auch immer mehr Mütter, wenn auch meist
nur teilzeit. Hinzu kommt, dass besonders bedingt durch die wachsende Scheidungsrate,
mehr und mehr Kinder bei Alleinerziehenden aufwachsen. Insgesamt geht aber
die Zahl der Kinder stetig zurück. Gleichzeitig wächst die Zahl
der älteren Menschen. Während im Jahre 1900 in Deutschland 35%
der Bevölkerung aus Kindern bestand werden im Jahr 2020 nur 13% Kinder
sein, d.h. der relative Anteil der Kinder an der Gesamtbevölkerung schrumpft
von einem Drittel auf fast ein Achtel (vgl.
Boh et al., 1989). Aus dieser Entwicklung ergeben sich wichtige Kennzeichen
der heutigen Familie. Insgesamt werden die Familien kleiner (vgl.
Statistisches Bundesamt 1995, und neuere Daten aus dem Internet). Die
Einkind-Familie dominiert mit 51%. Familien mit zwei Kindern machen
nur etwas mehr als ein Drittel aus (37%). Nur 9% der Familien haben 3 Kinder,
und nur 3% Familien leben mit vier und mehr Kindern.
Das Leben mit Kindern ist in manchen Innenstadtbezirken der Metropolen
(z.B. München) heute schon zur Ausnahme geworden. So wohnen z.B. in
vielen teuren Wohnlagen der Innen-städte in einem Acht-Parteien-Mietshaus
nur in einer Wohnung Familien mit Kindern. Gerade in diesen Wohnlagen dominiert
die Form des Ein- oder Zweipersonenhaushalts. Aber auch insgesamt zeigen
die neueren Daten des Mikrozensus (Daten des
Statistischen Bundesamtes im Internet 2001), dass das Leben als Singe
die heute häufigste Lebensform in Deutschland ist. Von den insgesamt
35,7 Millionen Haushalten sind 33,6 Prozent Einpersonenhaushalte ohne Kinder,
hinzu kommen 5,3% Alleinerziehende mit Kindern. Dagegen sind es weniger als
ein Drittel (31,9%) der Haushalte, in denen Elternpaare mit Kindern
zusammen leben (vgl. Petzold 1999).
Die Vielfalt dieser Lebensformen zwingt uns zu einem Umdenken (vgl.
Petzold 1999). Aus psychologischer Sicht braucht man ein neues Verständnis
von Familie. Die alte Definition der Familie als "Vater, Mutter &
Kind" muss ersetzt werden durch eine neue Definition, die die intime Beziehung
und die generationen-übergreifende Struktur betont. Die rechtliche
Definition der Familie über die Eheschließung ist heute faktisch
überholt.
2. Mediennutzung in der
Familie
Familien sind heute auch nicht mehr vorstellbar ohne die Medien (vgl.
Petzold 2000). Sie sind der zentrale Ort der Medien. Das beginnt mit
der obligatorischen Zeitung beim Frühstück. Der Fernseher ist groß
geworden als Familienmittelpunkt, verliert diese Position aber nach und nach.
Das Telefon ist die entscheidende Kommunikationsschnittstelle (heute oft ergänzt
durch das Handy). Viele Kinder nehmen erst über Telefon mit anderen
Kindern Kontakt auf, bevor sie sich mit ihnen zum Spielen treffen. Gerade
der SMS-Service spielt dabei eine große Rolle (vgl.
Höflich 2001). Auch zur Entspannung wird auf Medien zurückgegriffen
(Musik, Zeitschriften, Computerspiel). Und schließlich ist Bildung und
Weiterbildung immer wichtiger geworden und ohne Medien (Bücher, Fernsehen,
Internet) nicht mehr denkbar.
Diese uns heute so vertraute Medienwelt ist aber in mancher Hinsicht noch
gar nicht so alt (vgl. Hasebrook, 1995
), wie die folgende Aufstellung zeigt. Die Hälfte der hier ausgewählten
für uns heute wichtigen Medien wurde erst in den letzten 50 Jahren erfunden,
die andere Hälfte in den fünf Jahrhunderten davor!
Neue Medien von Gutenberg zu Multimedia:
1450 Buchdruck
1609 Zeitung
1682 Zeitschrift
1829 Fotografie
1875 Telefon
1895 Film
1920 Rundfunk
1950 Tonbandgerät
1954 Fernsehen
1969 Internet-Gründung
1971 Sat-TV
1981 Personal Computer
1983 CD-Player
1989 WWW-Internet
1990 Mobilfunk
2000 Highspeed-DSL
Als wichtigste traditionelle Medien werden heute in der Familie benutzt:
Bücher, Zeitschriften/Magazine, Zeitungen, Briefe, Audio-Medien (CD,
Kassette), Telefon, Radio und mit weitaus größter Bedeutung das
Fernsehen.
In den letzten Jahren sind nun zahlreiche neue Medien in der Familie dazu
gekommen (vgl. Petzold 2000, und neuere
Daten des Medienpädagogischen
Forschungsverbunds Südwest im Internet). Während die Anschaffung
von PCs erst in den letzten Jahren so rasant zunahm, haben viele Familien
- besonders in der Unterschicht - schon länger Video-Konsolen, die
besonders von Jugendlichen für Spiele benutzt werden. Neue Möglichkeiten
für interaktive Dienste verspricht das Digital-TV und das Abonnement-Fernsehen
Premiere mit den extra Pay-per-view Video-Diensten. Beides wird aber nur
wenig in Familien angenommen.
Die Vorherrschaft der Medien erzeugt häufig ein Bild in der Öffentlichkeit,
dass ohne Medien nichts mehr laufe. Gerade in Bezug auf die Kinder wird
dann oft die große Befürchtung laut, dass Kinder heute im "Mediensumpf"
ersticken. Diese Entwicklung ist jedoch nicht eingetreten, da auch Kinder
ihre eigenen Interessen und Wünsche haben. Wie neueste Daten des
Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (2001) zeigen,
dominiert in der Rangskala der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen von
Kindern (6-13 Jahre) immer noch "Freunde treffen" (40%). Allerdings kommt
schon an zweiter Stelle das Fernsehen (35%). An dritter, vierter, fünfter
und sechster Stelle kommen dann aber verschiedene Formen aktiven Spielens
(Spielen 35%; draußen spielen 33%; Sport 18%; drinnen spielen 17%).
Erst auf dem siebten Rangplatz kommt bei Kindern der Computer mit 16%.
Als weitere werden auch genannt: mit Tier beschäftigen (13%), Musik (Kassette,
CD) (13 %), Malen, Zeichnen, Basteln (10%), während alles andere unter
10% liegt (z.B. Buch lesen).
Bei Jugendlichen im Alter von 12-19 Jahre nimmt im Vergleich zu Kindern
die Bedeutung des Fernsehens ab, und die Rolle des Computers im Alltag wächst.
Eine genaue Analyse der Mediennutzung von Jugendliche heute zeigt: Fast
alle nutzen täglich das Fernsehen und Musikmedien (CD, Kassette) und
sehr viele (85%) das Radio. Zeitungen (59%) und Zeitschriften (49%) werden
noch knapp häufiger als der Computer (48%) genutzt. Bücher, Videos
und Comics werden von Jugendlichen aber im allgemeinen nur wenig genutzt.
Das Fernsehen nimmt aber nach wie vor als "Leitmedium der Jugend" den größten
Raum ein. 53 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12-19 Jahren reden mehrmals
pro Woche mit ihren Freunden über das Fernsehen, 44 Prozent über
das Handy. Zeitschriften, Zeitungen, Computerspiele oder das Internet bieten
jedem Dritten Gesprächsstoff. Über das Radio tauschen sich 21
Prozent der Jugendlichen aus, über Bücher nur noch 11 Prozent.
Wenn es allerdings darum geht, Langeweile zu vertreiben, liegt bei den
Jungen erstmals der Computer vor dem Fernseher. Offenbar helfen gegen Langeweile
aus Sicht der Jungen eher Computerspiele und Internet-Surfen als Fernsehkonsum.
Allgemein ist die beliebteste Tätigkeit am Computer das Spielen. Es
liegt vor dem Texte schreiben, dem Arbeiten für die Schule, dem Internet
und dem Musik hören. Doch auch hier gibt es Unterschiede zwischen den
Ge-schlechtern: Jungen spielen viel lieber am PC und hören mit ihm Musik.
Mädchen hingegen nutzen den Computer lieber für Texte und Schularbeiten.
Die unterschiedlichen Einstellungen von Jugendlichen kann man nach drei
Typen von Computernutzern unterscheiden:
1) PC-Pragmatiker (42 Prozent), die eine positive Einstellung
zum Computer haben, ohne dabei euphorisch oder unkritisch zu sein. In dieser
Gruppe sind Jungen und Mädchen gleichermaßen vertreten, Hauptschüler
etwas mehr als Gymnasiasten.
2) PC-Fans (29 Prozent), für die der Computer eine geliebte
Freizeitbeschäftigung darstellt. In dieser Gruppe stellen Jungen zwei
Drittel.
3) PC-Verweigerer, die Lesen und Fernsehen gegenüber dem
Computer bevorzugen. In dieser Gruppe sind zwei Drittel Mädchen. Zudem
gehören eher die älteren Jugendlichen dieser Gruppe an.
Obwohl viele Familien den Computer für ihre Kinder anschaffen, damit
sie ihn zur Bildung nutzen, wird der PC faktisch vor allem zum Spielen benutzt.
Computerspiele sind für Kinder - noch mehr als für Jugendliche
- besonders attraktiv. Fast 50% der Kinder gaben in einer von mir durchgeführten
Untersuchung (vgl. Petzold 2000) an, dass
sie Computerspiele mögen, wenn sie lustig, witzig, spaßig sind.
Über 40% der Kinder mögen Computerspiele, weil sie ihre Geschicklichkeit
entfalten können. Bei den Mädchen überwiegt das Interesse am
Nachdenken und Tüfteln (Puzzle), bei den Jungen das Interesse an Kämpfen
und Gewinnen. Für viele Kinder sind Computerspiele die geeignete Wahl
für Ablenkung und Zeitvertreib, viele versprechend sich Spannung, Aufregung
und Aktion. Nur ca. 6% interessieren sich für Computerspiele wegen der
in manchen Spielen vorherrschenden Gewalt. Insgesamt konnten wir vier Hauptmotive
von Kindern für Computerspiele herausfinden:
1. Faszination von Gewalt und brutalen Darstellungen,
2. Lustiges, Witziges, Spaß erleben und mit Geschicklichkeit Spannung,
Aufregung und Aktion meistern,
3. Spiele nutzen zur Ablenkung und Zeitvertreib, wobei Kampf und Wettstreit
abgelehnt werden,
4. Interesse an Tüftelei und über Strategien nachdenken bzw.
Abenteuer-, Simulations- oder Rollenspiele erfolgreich durchspielen.
3. Internetnutzung von
Kindern und Jugendlichen
Computer- und Internetnutzung gehört inzwischen zum Alltag der meisten
deutschen Jugendlichen. In den repräsentativen Studien "Jugend, Information
(Multi-)Media 2000" und "Kinder und Medien 2000" des
Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (2000, 2001, 2001a)
wurden bundesweit 1200 Jugendliche im Alter zwischen zwölf und 19
Jahren befragt. Die Hälfte dieser Jugendlichen Jahren hat ein eigenes
Handy, viele benutzen auch das Handy der Eltern. In 69% der Familien ist
mindestens ein Personal Computer verfügbar, häufig haben
bereits Kinder nicht nur einen eigenen Fernseher, sondern auch einen eigenen
PC im Kinderzimmer. Aber nicht alle PCs sind ans Internet angeschlossen,
sondern nur in ca. einem Viertel der Familien steht ein Internet-fähiger
PC. Von den verschiedenen Möglichkeiten des Internet wird dort am meisten
(in 20% der Familien) e-mail benutzt.
Jugendliche sind an den neuen Medien so stark interessiert, weil sie neue
Kommunikationsmöglichkeiten (e-mail und Chat) schaffen und ein bisher
unerreichbares Informationsspektrum anbieten. Auf die Frage, bei welchen
Themenbereichen es besonders wichtig ist über neueste Entwicklungen
auf dem Laufenden zu sein, nannten 56 Prozent der Jugendlichen "Aktuelles
aus aller Welt", 46 Prozent "Mode/Klamotten" und 45 Prozent "Musik und Interpreten".
Das Thema Internet kommt mit 40 Prozent auf den vierten Platz. Bei Jungen
rangiert das Thema Internet auf dem zweiten Platz, bei Mädchen auf dem
sechsten .
Alles in allem ist das Internet bei Jugendlichen auf dem Vormarsch. Während
im Jahr 2000 nur 29 Prozent aller Jugendlichen mindestens mehrmals pro Woche
online waren, sind es im Jahr 2001 bereits 41 Prozent. Das Versenden und
Empfangen von Emails ist die häufigste Anwendung im Netz, das Suchen
nach Informationen und das Chatten folgen mit deutlichem Abstand. Insgesamt
zählen heute 63 Prozent der Jugendlichen zu den Internet-Erfahrenen,
57 Prozent waren es im Vorjahr. Auch die Gruppe der Computer-Nutzer generell
ist mit nun 83 Prozent nur wenig angewachsen (2000: 81 Prozent).
4. Eigene Ergebnisse zu Persönlichkeitsmerkmalen
und Computernutzung
Zur Frage der sozialen Auswirkung der Nutzung neuer Medien auf die Persönlichkeit
des Users gibt es zur Zeit noch nicht viele psychologische Untersuchungen.
In einer eigenen Untersuchung bei Studentinnen und Studenten in Düsseldorf
und Köln im Jahre 1996 zum Zusammenhang von Persönlichkeitseinstellungen
mit der Art der Nutzung des Computers konzentrierten wir uns auf psychologische
Einstellungsvariablen, die für eine moderne Computernutzung relevant
sind. Unsere Fragestellungen bezogen sich nicht nur auf Computernutzung
allgemein, sondern auf das spezifische Problem, ob bestimmte Typen der Computernutzung
mit besonderen Dimensionen der Persönlichkeit zusammenhängen.
Die in den Faktorenanalysen ermittelten Typen der Computernutzung konnten
in bezug auf Zusammenhänge der Computernutzung mit Persönlichkeitsmerkmalen
daraufhin wie folgt beschrieben werden (vgl.
Petzold, 2000):
1. Computer-Freak-Orientierungen finden sich häufiger bei männlichen
Studenten höheren
Semesters. Sie weisen kaum Auffälligkeiten in Persönlichkeitsmerkmalen
auf. Nur in bezug auf "Erregbarkeit" sind sie deutlich ruhiger, gelassener,
selbstbeherrschter als der Rest der Untersuchungsgruppe.
2. Merkmale der Computer-Hasser hängen mit einer geringeren Lebenszufriedenheit
(unzufrieden, bedrückt, negative Lebenseinstellung), mehr Gehemmtheit
(gehemmt, unsicher, kontaktscheu), einer geringen Beanspruchbarkeit (angespannt,
überfordert, sich oft "im Streß" fühlend), mehr körperlichen
Beschwerden (viele Beschwerden, psychosomatisch gestört) und häufigeren
Gesundheitssorgen (Furcht vor Erkrankungen, gesundheitsbewusst, sich schonend)
zusammen. Allgemein ist auch ein Zusammenhang mit Emotionalität/Neurotizismus
(emotional labil, empfindlich, ängstlich, viele Probleme und körperliche
Beschwerden) deutlich festzustellen.
3. Unerfahrene Computernutzer sind eher weiblichen Geschlechts und zeichnen
sich in ihren Persönlichkeitseigenschaften durch eine deutlich geringere
Lebenszufriedenheit (unzufrieden, bedrückt, negative Lebenseinstellung),
geringerer Leistungsorientierung (wenig leistungsorientiert, nicht aktiv
schnell-handelnd, kaum ehrgeizig-konkurrierend), stärkerer Erregbarkeit
(erregbar, empfindlich, unbeherrscht), mehr Aggressivität (aggressives
Verhalten, spontan und reaktiv, sich durchsetzend), eine geringe Beanspruchbarkeit
(angespannt, überfordert, sich oft "im Stress" fühlend), mehr körperlichen
Beschwerden (viele Beschwerden, psycho-somatisch gestört) aus. Allgemein
ist ebenfalls ein Zusammenhang mit Emotionalität/Neurotizismus (emotional
labil, empfindlich, ängstlich, viele Probleme und körperliche
Beschwerden) deutlich festzustellen.
4. Leistungsorientierte Computernutzer sind älteren Semesters. Persönlichkeitstypisch
konnten Zusammenhänge mit geringer sozialer Orientierung (Eigenverantwortung
in Notlagen betonend, selbstbezogen, unsolidarisch), stärkerer Leistungsorientierung
(leistungsorientiert, aktiv schnell-handelnd, ehrgeizig-konkurrierend),
starker Erregbarkeit (erregbar, empfindlich, unbeherrscht) und eine geringe
Beanspruchbarkeit (angespannt, überfordert, sich oft "im Stress" fühlend),
festgestellt werden.
Entgegen der Annahme, dass intensive Computernutzung zu Persönlichkeitsstörungen
führt, konnten wir bei unserer studentischen Stichprobe feststellen,
dass gerade die expliziten Computerhasser und die distanziert unerfahrenen
Studentinnen/Studenten durch hohe Werte auf der zusammenfassenden Neurotizismus-Skala
(emotional labil, empfindlich, ängstlich, viele Probleme und körperliche
Beschwerden) auffallen. Bei beiden Typen hängt dies vermutlich mit
den jeweils hohen Werten auf den Skalen geringer Lebenszufriedenheit, starkem
Stresserleben und Gesundheitssorgen bzw. körperlichen Beschwerden zusammen
(vgl. Petzold, 2000).
In ähnlicher Richtung konnte auch Scherer
(1997) die häufig anzutreffende Hypothese nicht bestätigen,
nach der sozial zurückgezogene, introvertierte und schüchterne Internetnutzer
überproportional häufig unter den Internetsüchtigen zu finden
sind - im Gegenteil. Ihre abhängigen Studenten schätzten sich als
sozial kompetenter ein und nutzten das Internet häufiger als Kontaktmedium
zum Aufbau neuer (offline) Bekanntschaften als nicht abhängige Studenten.
5. "Internet-Sucht"
- eine allgemeine Gefahr?
1995 wurde von dem New Yorker Psychiater Ivan Goldberg scherzhaft "Internetsucht"
als Scheindiagnose erfunden, wobei Goldberg heute einer der Kritiker des
Konzepts der Internetsucht ist. Anstelle der erwarteten belustigten
Reaktionen von Kollegen erhielt Goldberg jedoch eine Vielzahl von e-mails
von Personen, die davon betroffen waren. Schließlich wurde "Internetsucht"
durch die New York Times im Dezember 1996 zum allgemeinen öffentlichen
Thema. Seither haben international zahlreiche Psychologen das Thema aufgegriffen,
z.B. Kimberly Young mit ihrem Buch "Caught in
the Net" (1999).
Wer heute den Begriff "Sucht" benutzt, dann wird häufig Bezug
genommen auf die anerkannten medizinischen Definitionen (DSM IV). Dagegen
wird in der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (ICD 10) nicht
der Suchtbegriff verwendet, sondern der Begriff des Abhängigkeitssyndroms
benutzt. In beiden Definitionen geht man gleichermaßen von einer substanzbezogenen
Abhängigkeit aus: "Als wesentliches Charakteristikum des Abhängigkeitssyndroms
gilt ein aktueller Konsum oder ein starker Wunsch nach der psychotropen
Substanz. Der innere Zwang, Substanzen zu konsumieren, wird meist dann bewusst,
wenn versucht wird, den Konsum zu beenden oder zu kontrollieren" (vgl.
Malchow et al. 1998). Bei der "Internetsucht" handelt es sich jedoch
nicht um eine solche substanzbezogene Abhängigkeit. Daher weigern sich
bis heute Krankenkassen und staatliche Organisation in Deutschland, Internetabhängige
als pathologisch Kranke anzuerkennen. Dagegen gibt es zahlreiche Protestinitiativen,
die sich für die Anerkennung der Internetabhängigkeit als Krankheit
einsetzen. Die deutsche Initiative "HSO" ("Hilfe zur Selbsthilfe für
Onlinesüchtige e.V." - http://onlinesucht.de), wurde im Juni 1999 in
Langenfeld (NRW) gegründet, stellte aber im April 2001 ihre Arbeit wegen
mangelnder öffentlicher Anerkennung in Deutschland ein (vgl. auch
Farke 1998, 1999).
Aus psychologischer Sicht orientiert sich eine angemessene Definition der
Internetsucht heute an der anerkannten Glücksspielsucht (vgl.
Petry 1996, 1998). Hahn und Jerusalem
(2001) schlagen in diesem Sinne vor, Internetsucht als eine moderne Verhaltensstörung
und eskalierte Normalverhaltensweise im Sinne eines exzessiven und auf ein
Medium ausgerichteten Extremverhaltens zu verstehen. Klassifikatorisch könnte
Internetsucht dann - wie von Griffiths (1995)
vorgeschlagen - als spezifische Form technologischer Süchte eingeordnet
werden, die durch Mensch-Maschine Interaktion gekennzeichnet sind (zu der
dann beispielsweise auch Computerabhängigkeit oder Fernsehsucht zählen
würde). Technologische Abhängigkeiten wären in dieser inhaltlichen
Klassifikation selbst eine Unterkategorie verhaltensbezogener, stoffungebundener
Abhängigkeiten.
In der Diagnostik der Spielsucht klassifiziert Young diejenigen Personen
als internetabhängig, auf die im Jahresverlauf mindestens fünf
von acht Kriterien zutreffen (z.B. starkes Eingenommensein vom Internet,
Unfähigkeit zur Abstinenz, Toleranzentwicklung, Entzugssymptome). In
ähnlicher Form haben Hahn und Jerusalem (2001) fünf Kriterien bestimmt,
die für die Internetabhängigkeit gelten:
1. Einengung des Verhaltensraums: Über längere
Zeitspannen wird der größte Teil des Tageszeitbudgets zur Internetnutzung
bzw. Computerwartung etc. verausgabt.
2. Kontrollverlust: Die Kontrolle über die individuelle
Internetnutzung geht weitgehend verloren und Versuche, die Nutzung zu reduzieren
oder zu unterbrechen, bleiben erfolglos oder werden erst gar nicht unternommen.
3. Toleranzentwicklung: Die "Verhaltensdosis" (d.h.
die Zeit am Computer) zur Erreichung der angezielten positiven Stimmungslage
wird ständig erhöht.
4. Entzugserscheinungen: Beeinträchtigungen psychischer
Befindlichkeit (Unruhe, Nervosität, Unzufriedenheit, Gereiztheit, Aggressivität)
und psychisches Verlangen nach der Internetnutzung als Folge zeitweiliger,
längerer Unterbrechung der Internetnutzung treten auf.
5. negative soziale Konsequenzen: In den eigenen
Lebensbereichen Arbeit und Leistung sowie soziale Beziehungen kommt es zu
erheblichen Problemen wegen der Internetaktivitäten (z.B. Ärger
mit Freunden oder Arbeitgeber).
In der überhaupt ersten Studie zur Internetsucht befragte
Young (1999) innerhalb von drei Monaten 496 Teilnehmer per Online-Fragebogen
oder Offline-Telefoninterview, wobei sie zu dem erstaunlichen Ergebnis kam,
dass 396 (= 79,8 %) aller Befragten als internetsüchtig galten.
Dies ist nur zu erklären durch eine selbstselektive Verzerrung der Stichprobe
durch die überproportionale Beteiligung von vermeintlich Betroffenen.
In der bisher größten Studie von
Greenfield (1999) kam es zu keiner so starken Verzerrung, da die Teilnehmer
auf der Hauptseite des reichweitenstarken, amerikanischen Nachrichtensenders
ABC News um Teilnahme gebeten wurden. Binnen zweier Wochen beantworteten
17 251 Teilnehmer die Fragen Greenfields. Ähnlich wie Young legte auch
Greenfield eine einfache Checkliste der Diagnostik zugrunde und identifizierte
nur 990 (d.h. 5,7 Prozent) der - vornehmlich amerikanischen und kanadischen
- Internetnutzer als internetsüchtig.
In Deutschland werden zur Zeit intensive Forschungen zum Problem der Internetanhängigkeit
an der Humboldt-Universität in Berlin durchgeführt (vgl.
Hahn & Jerusalem, 2001; http://www.internetsucht.de). In einer
internetbasierten Online-Befragung beantworteten insgesamt 8 851 Personen
einen Fragebogen der sich auf die o.a. fünf Kriterien stützte.
Die Teilnehmer wurden per Aufruf in Tageszeitungen und Magazinen sowie im
Rahmen von Radio- und TV-Interviews zur Teilnahme im Internet aufgefordert.
Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass sich möglichst alle
Internetnutzer angesprochen fühlen sollten, nicht nur solche, die vermeintlich
zu viel Zeit mit Internetaktivitäten verbringen. Die Ausschöpfungsquote
dieser Gelegenheitsstichprobe ist für Online-Surveys mit 71,2% als sehr
hoch zu bezeichnen.
Die ersten Ergebnisse von Hahn und
Jerusalem (2001) für das Auftreten von Internetsucht liegt
noch unter den Werten von Greenfield (1999)
. Insgesamt erfüllten 3,2 % der Befragungsteilnehmer das formulierte
normative Kriterium der Internetsucht. Diese Gruppe verbringt durchschnittlich
34,6 Stunden pro Woche online im Internet. Weitere 6,6 Prozent mit einer durchschnittlichen
Onlinezeit von 28,6 Stunden pro Woche wurden als Risikogruppe klassifiziert.
Die Gruppe der unauffälligen Internetnutzer nutzt das Internet nach
eigenen Angaben durchschnittlich 7,6 Stunden pro Woche. Dabei gibt es erhebliche
Unterschiede in Abhängigkeit vom Alter und Geschlecht der Teilnehmer.
Diese Berliner Ergebnisse bestätigen die Hypothese, dass Internetsucht
vornehmlich als Jugendproblematik zu verstehen ist. So fällt die Rate
der Internetabhängigen stetig von 10,3 % in der Gruppe der unter 15-jährigen
auf 2,2 % in der Gruppe der 21- bis 29-jährigen. Gleichzeitig deuten
sich differenzielle Geschlechtsunterschiede innerhalb der Altergruppen an.
Bis zum Alter von 18 Jahren sind Jungen im Durchschnitt erheblich häufiger
als Mädchen unter den Internetabhängigen auszumachen. Dieser Unterschied
kehrt sich bereits ab dem Alter von 19 Jahren überraschend um. Mit
zunehmenden Alter sind proportional zur Gesamtzahl der Internetsüchtigen
in der jeweiligen Altersgruppe vermehrt Frauen betroffen.
Zu der Frage, ob die intensive Internetnutzung zu sozialer Isolation und
Depression führt, liegen unterschiedliche Ergebnisse vor. In verschiedenen
Studien wurde die Beobachtung festgehalten, dass aktive Internet-User auch
im normalen Alltag in sozialen Kontakten aktiver sind (vgl.
Döring 1999). Schon älter ist auch die Erkenntnis, dass intensive
jugendliche Computer-Nutzer auch besonders sportlich engagiert (z.B. im Sportverein)
sind (vgl. Spanhel 1990,
Petzold 2000).
Hahn und Jerusalem (2001) konnten
zeigen, dass es deutliche Unterschiede in den Nutzungspräferenzen von
Internetsüchtigen und unauffälligen Internetnutzern gibt. Wie vielfach
in der Literatur diskutiert, nehmen Kommunikationssysteme wie Chats, Foren
oder die Newsgroups den größten Raum des Nutzungsverhaltens von
Internetsüchtigen ein. Relativ zur Gesamtnutzung des Internets entfällt
ein Drittel aller Aktivitäten der Internetsüchtigen auf diese
interaktiven Dienste. Bedeutsame Unterschiede im Nutzungsverhalten ergeben
sich auch für die Nutzung von Musikangeboten, interaktiven Spieleplattformen
(ohne Geldeinsatz) und Erotik-angeboten. Allerdings bestehen hier erhebliche
Alters- und Geschlechtsunterschiede. So beschränken sich die Internetaktivtäten
von internetsüchtigen Mädchen unter 20 Jahren fast ausschließlich
auf die Nutzung von Chats, während Jungen heterogenere Präferenzen
haben.
6. Chancen und Gefahren
neue Medien
Es stehen uns mit der Entwicklung der neuen Medien schwierige Aufgaben
bevor. Viele Eltern fragen sich, wie Probleme und Gefahren bewältigt
werden können. Ich würde vier hauptsächliche Punkte nennen
(vgl. Petzold 2000):
1. In Zeiten schwieriger Arbeitsbedingungen und Anforderungen an erhöhte
Mobilität wird die Kinderbetreuung in manchen Familien oft zum Problem.
Manche Eltern greifen sich dann Medien zur Unterstützung, quasi als
Babysitter. Kinder dürfen länger Fernsehen, man kauft Ihnen ein
neues Spiel für den Gameboy oder lässt sie am PC spielen. Viele
Eltern haben dabei über das Medium selbst nur die geringsten Kenntnisse.
Die Aufgabe der Erziehung und Unterstützung der Kinder beruht aber auf
personaler Interaktion und bleibt eine menschliche pädagogische Aufgabe.
Sie kann daher nicht von Medien übernommen werden. Medien sollten
daher nicht als Kinderbetreuungs-Ersatz benutzt werden.
2. Gerade das Handy scheint sich besonders gut dafür zu eignen, dass
der Kontakt zwischen Eltern und Kindern/Jugendlichen wieder enger wird.
Wenngleich ein Handy sehr praktisch ist zur Absprache von Treffen
und Terminen, sollte es doch nicht als Mittel der Kontrolle missbraucht
werden. Gerade Jugendliche brauchen auch ihren eigenen Freiraum von der Erwachsenenwelt,
den sie sich - wenn er ihnen nicht gewährt wird - selbst nehmen. Zur
Verbesserung der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern kann daher auch
das Internet nur beschränkt dienlich sein. Wichtiger ist die direkte
personale Kommunikation, denn sie ermöglicht mehr emotionale Unterstützung.
3. Durch die neuen Medien werden Eltern wie Kindern/Jugendlichen neue Erfahrungsräume,
ein riesiger Informationskosmos zugänglich. Dadurch verändert
sich die Kindheit, die immer weniger ein von der Erwachsenenwelt abgeschlossener
Raum ist. Dies kann eine Gefahr werden, kann aber auch als Chance begriffen
werden, gemeinsam diese neue Welt zu erkunden. Eltern sollten daher ihre
Kinder nicht mit den neuen Medien allein lassen. Es stellt sich daher als
neue Aufgabe der familiären Erziehung, nicht allein, sondern gemeinsam
- als Familie - die neuen Medien zu entdecken.
4. Die neuen Medien sind so vielfältig und verzweigt in ihren Möglichkeiten,
dass eine sinnvolle Nutzung mit einem hohen Lernaufwand verbunden ist. Kinder
haben naturgemäß ein höheres Lerntempo als Erwachsene, sie
haben zudem den Vorteil, dass sie quasi von Beginn an mit dieser neuen Medienwelt
aufwachsen. Manche Eltern fühlen sich dadurch bedroht, weil ihr Wissensmonopol
nicht mehr gilt. Es wäre aber fruchtbarer, wenn Eltern dies als Chance
für eine neue Beziehung zu ihren Kindern nutzen und als Eltern beginnen,
von ihren Kindern zu lernen.
Wenn man die Chancen und Gefahren abwägt, dann muss noch einmal betont
werden, dass Computer- und Video-Spiele bei den meisten Jugendlichen den
Alltag nicht dominieren, sie sind jedoch ein integraler Bestandteil ihrer
Lebenswelt geworden. Kinder wachsen heute mit Computern auf, lernen ihn schon
im Vorschulalter kennen. Dies ermöglicht ein frühes Lernen
der Computer-Nutzung und ein Training senso-motorischer Fertigkeiten. Der
Computer (oder auch ein Videospiel) kann auch zur Ausdauer- und Motivationsförderung
nützlich sein. Es gibt jedoch auch negative Aspekte. Ausgedehnte Beschäftigung
mit dem PC führt zu physischen Beeinträchtigungen (Augen, Körperhaltung,
Gehirn). Wenn die soziale Situation der Familie in irgendeiner Weise gefährdet
ist, dann kann eine intensive Computerbeschäftigung zur Realitätsflucht
und Gewöhnung/Sucht werden. Die soziale Isolation entspringt jedoch
nicht dem Gerät selbst oder den Interessen des Spielers. So haben in
unserer Untersuchung Kinder die Frage "Spielst du gern allein?" zu 85,7%
mit "Nein" und nur zu 14,3% mit "ja" beantwortet (vgl.
Petzold 2000).
Die Nutzung von neuen Medien hat durchaus einen langfristigen psychologischen
Effekt auf die einzelne Person, die sozialwissenschaftliche Forschung hat
dazu gerade erst begonnen (vgl. z.B.
Hasebrook 1995, Döring 1999,
Sülzle 2001). Neue Medien verändern die Persönlichkeit
durch den für jeden Einzelnen möglichen unbegrenzten Zugriff auf
Information, der aber nur mit hoher Kompetenz optimal genutzt werden kann.
Die zahlreichen Multimedia-Angebote stimulieren persönliche Interessen
und können neue Aspekte der Person prägen. Durch die kommunikativen
Dienste des Internet können neue weltweite persönliche Beziehungen
entstehen, die aber nicht automatisch zu einer weltweiten Verständigung
führen. Die durch Medien vermittelte wachsende non-personale Kommunikation
verändert die emotionale Beziehung zwischen den Menschen, die Gefahr
oberflächlicher Kommunikation nimmt zu. Durch die neuen multimedialen
Lernangebote kann viel mehr Wissen aufgenommen werden, aber die Qualität
dieses Wissenserwerbs beruht nicht auf eigener Erfahrung. Durch die vielfachen
Möglichkeiten der neuen Medien entsteht eine große Faszinationskraft,
eine Internet-Abhängigkeit oder -Sucht kann jedoch nur auf dem Hintergrund
problematischer Verhältnisse entstehen (vgl.
Petzold 2001).
Auch das Leben in den Familien - in ihren unterschiedlichsten Formen -
ändert sich durch neue Medien. Durch die Medien vermittelt wird eine
neue Integration von Arbeit, Erziehung und Freizeit möglich. Die Generationenbeziehungen
werden sich ändern, denn die Eltern lernen von ihren Kindern. Für
die aufwachsende Generation bietet sich über das Internet ein bisher
noch nie möglicher riesiger Erfahrungsraum. Durch diesen Zutritt zu
der bisher den Erwachsenen vorbehaltenen Welt ändert sich das
Leben von Kindern grundlegend (vgl. Aufenanger
2001 ). Man kann sogar soweit gehen und annehmen, dass die Kindheit als
geschützter Raum verschwindet. Durch die neuen Medien werden viele Beziehungen
im Alltag aufrecht erhalten, insbesondere der tägliche Kontakt via Telefon
oder Handy zu nahen Familienangehörigen (z.B. Oma). Aber mit der Zeit
verändern sich solche nur über Medien vermittelte sozialen Bindungen,
sie verlieren an emotionaler Nähe. Diese möglichen Probleme nehmen
dann zu, wenn sich Familien aufgrund ihrer allgemeinen Lage schon in Schwierigkeiten
befinden: Problem-Familien haben dann noch mehr Probleme.
Neben diesen Auswirkungen, die jeder Einzelne in der Familie spürt,
kommt es auch auf gesellschaftlicher Ebene zu psychologischen Probleme mit
neuen Medien. Durch die neuen Medien wird eine verstärkte soziale Kontrolle
möglich, z.B. können Eltern über eine Webcam im Kindergarten
ihre Sprösslinge beobachten. Das bedeutet letztlich einen Verlust von
Privatheit. Die Unüberschaubarkeit und Einschränkungen im Internet
können nur mit hoher Kompetenz gemeistert werden, die Unterschiede
zwischen reich und arm wachsen aufgrund des Media-gap und werden - zumindest
noch eine Zeit lang - zunehmen. Familien mit höherer Bildung nutzen
neue Medien mehr und besser. Die wöchentliche Nutzung des Internet
zu Hause ist bei Familien mit Hauptschulabschluss von 2% 1997 auf 7% im Jahre
1999 gestiegen, bei jenen mit Hochschulabschluss aber von 9% 1997 auf
19% im Jahre 1999.
Die neuen Medien stellen uns also vor große neue gesellschaftliche
Aufgaben. In Bezug auf die Schule wird schon einiges getan. Die neuen Aufgaben
der Medienerziehung für Eltern werden aber noch kaum benannt. Eine
neue Initiative zur Medienkompetenzförderung von Eltern im Rahmen der
Familienbildung und der Erziehungsberatung wäre dringend erforderlich
(und ist in Nordrhein-Westfalen geplant).
Um diese genannten Aufgaben zu bewältigen, muss man sich klar werden,
wie man Medienkompetenz fördern kann. Dabei geht es (nach
Baacke, 1997) um vier verschiedene Bereiche: Medienkunde, Mediennutzung,
Medienkritik und kreative Mediengestaltung:
a) Medienkunde umfasst Kenntnisse über die Medien
(Wissen über die Vielfalt und Bedienung der Geräte);
b) Mediennutzung kann entweder rezeptiv (TV- oder PC-Konsum)
oder interaktiv (Computerspiele, Teleshopping) erfolgen;
c) Medienkritik bezieht sich auf die Fähigkeit,
komplexe Zusammenhänge zu analysieren, zu bewerten und zu hinterfragen;
d) Kreative Mediengestaltung bedeutet, Multimedia für
sich selbst als Ausdrucksform zu nutzen (Videofilm, Internet-Homepage).
Mit Blick auf mögliche Aspekte präventiver medienpädagogischer
Arbeit sollte zunächst bedacht werden, dass es sich nicht nur um eine
Aufgabe der Medienkompetenzförderung sondern auch der Persönlichkeitsbildung
handelt (vgl. Kipshagen & Petzold
1999). Dabei kommt der Aufgabe der Medienkritik und der Mediengestaltung
sicherlich eine besonders wichtige Rolle zu. Es ist vermutlich motivationsfördernder,
mit gefährdeten Jugendlichen neue Aspekte aktiver kreativer Arbeit und
kritischer Reflexion zu entfalten als nur auf Einschränkungen und Verbote
zu setzen.
7. Perspektiven für
Präventionsarbeit
Aus der Psychologie des Jugendalters ist bekannt, dass das Jugendalter
als eine Phase der Suche nach Identität und Persönlichkeitsentfaltung
eine große Rolle für die individuelle Entwicklung spielt (vgl.
Oerter & Montada, 1995
). Hahn und Jerusalem (2001)
erklären das Ergebnis, dass Internetsucht weit häufiger bei Jugendlichen
zu beobachten ist, mit Bezug auf kognitive Erwartungshaltungen die sich
gerade im Jugendalter entwickeln. Man kann annehmen, dass dem Internet
in dieser Phase des Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter eine
funktionale Relevanz für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben
zukommen kann. Es kann auch festgestellt werden, dass Jugendliche im Internet
ein Instrument entdeckt haben, das sie bei ihrer Persönlichkeits- und
Identitätsentwicklung unterstützt. Gerade die vielfältigen
Kommunikationsmöglichkeiten des Internet, wie auch in vielen Computerspielen,
werden von Jugendlichen - mehr unbewusst als bewusst - genutzt, um neue
Rollen gefahrlos zu testen und bisher unbekannte Aspekte der eigenen Identität
zu entdecken (vgl. Turkle 1998).
Es sind gerade die sozialpsychologischen Besonderheiten des Internet (vgl.
Döring, 1999), die es für
Jugendliche besonders attraktiv macht. Das Internet bietet Jugendlichen mögliche
Orientierungen in der für sie schwierigen Entwicklungsphase mit ihren
körperlichen, psychischen und sozialen Unsicherheiten. Gerade die Anonymität
und die häufig auf Text eingeschränkte Kommunikation bieten Jugendlichen
in ihrer Unerfahrenheit einen geschützten Raum zum Experimentieren. Man
kann z.B. im Chat einerseits schnell in synchroner Kommunikation mit anderen
in Austausch treten, muss sich aber nicht mit der ganzen Person einbringen.
Das ist für Jugendliche, die sich ihrer selbst (z.B. in der Wahrnehmung
des eigenen Körpers, des Geschlechts usw.) noch unsicher sind, eine Chance,
dennoch mit anderen in Kommunikation zu treten. Die in Bezug auf die
vielen Sinneskanäle beschränkte Kommunikation via Internet ist
daher gerade für Jugendliche geradezu besonders attraktiv, wobei noch
den Ausschlag gibt (z.B. im Vergleich zum früher bei Jugendlichen beliebten
CB-Funk), dass die globale Vernutzung ein riesiges Potential von Ansprechpartnern
ermöglicht.
Auf dieser Kommunikationsschiene erfahren manche Jugendliche häufig
auch mehr Anerkennung durch Gleichaltrige als in Face-To-Face-Interaktion,
die zwar nur "virtuell" erfolgt, aber dann sehr bedeutsam wird, wenn entsprechende
Anerkennung im Alltag fehlt.
Da eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben im Jugendalter die Ablösung
vom Elternhaus ist, könnte nicht zuletzt auch das Internet als
Mittel zur Abgrenzung von der Erwachsenenwelt dienen.
Diese hohe subjektive Funktionalität des Internet könnte für
einige Jugendliche dann zum Problem werden, wenn die Kompetenz, im Alltag
die erprobten Rollen umzusetzen, aufgrund ungünstiger Sozialisationsbedingungen
nur schlecht gelingt. Wenn sich im familialen Kontext und weiteren
Sozialisationsumfeld verschiedene negative Faktoren addieren, dann könnte
angesichts von unbewältigten Entwicklungsaufgaben der Umgang mit dem
Internet für einzelne Jugendliche zum Problem werden. Es wäre daher
wünschenswert, wenn künftige Studien zur Internetabhängigkeit
von Jugendlichen stärker die vielfachen Sozialisationsbedingungen unterschiedlicher
Gruppen im Jugendalter berücksichtigen.
Die andere Seite der Präventionsarbeit muss die klassische sozialpädagogische
Arbeit der Identitätsförderung von Jugendlichen neu entfalten.
Internetabhängige Jugendliche werden sicherlich nicht durch das Medium
selbst - im Sinne einer substanzgebundenen Sucht - sondern aufgrund ihrer
individuellen Sozialisationsumgebung "süchtig". Sensibilität für
die Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen und Angebote für neue Spiel-
und Lernumgebungen (Rollenspiel, Theater) sowie die Förderung von Gruppenprozessen
sind dann besonders gefragt. Eigene Erfahrungen aus der Arbeit in einem Internet-Cafe
zeigen, dass dabei eine Doppelqualifikation für die Arbeit am Computer
wie auch für die sozialpädagogische Gruppenarbeit erforderlich
ist (vgl. Kipshagen & Petzold
1999).
Literatur:
Aufenanger, S. (2001). Wie die
neuen Medien die Kindheit verändern. Medien Praktisch, 25 (Heft 2), 4-7.
Baacke, D. (1997). Medienpädagogik.
Tübingen: Niemeyer-verlag.
Boh, K., Bak, M., Clason, C.
& Pankratova,M. (eds.) (1989). Changing patterns of European Family
Life. London: Routledge.
Döring, N. (1999). Sozialpsychologie
des Internet. Göttingen: Hogrefe.
Farke, G. (1998). Sehnsucht Internet.
Kilchberg, Schweiz: SmartBooks.
Farke, G. (1999). Hexenkuss.de: Liebe,
Lüge, Lust und Frust im Internet. Langenfeld: Deller Verlag.
Greenfield, D. (1999). The Nature
of Internet Addiction: Psychological Factors in Compulsive Internet Use. Presentation
at the 1999 meetings of the American Psychological Association, Boston, Massachusetts,
August 20,1999 (Online: http://www.virtual-addiction.com/internetaddiction.htm).
Griffiths, M.D. (1995). Technological
addictions. Clinical Psychology Forum, 76, 14-19.
Hahn, A. ; Jerusalem, M. (2001).
Internetsucht: Jugendliche gefangen im Netz erscheint in: Raithel, J. (Hrsg.).
Risikoverhaltensweisen Jugendlicher. Erklärungen, Formen und Prä-vention.
Opladen: Leske + Budrich.
Hasebrook, J. (1995). Multimedia-Psychologie.
Heidelberg: Spektrum-Verlag.
Höflich, J.R. (2001). Das Handy
als "persönliches Medium". Kommunikation@Gesellschaft, Jg. 2, Beitrag
1. http://www.uni-frankfurt.de/fb03/K.G/B1_2001_Höflich.pdf.
Kipshagen, M. & Petzold,
M. (1999). Kidz im Netz. Abschlussbericht des Pilotprojekts "Psy-chosoziale
Beratung im Internet-Cafe". Düsseldorf: Jugendberatung der Arbeiterwohlfahrt.
http://jubawo.uni-duesseldorf.de/abschluzbericht.htm
Malchow, C.P.; Kanitz,
R.D. & Dilling H. (1998). Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, ICD-10 Kapitel V (F). Göttingen: Hogrefe.
Medienpädagogischer
Forschungsverbund Südwest (2000). Jugend, Information (Multi-)Media
2000. http://www.mpfs.de/projekte/jim2000.html
Medienpädagogischer
Forschungsverbund Südwest (2001). Kinder und Medien 2000. http://www.mpfs.de/projekte/kim00.html
Medienpädagogischer
Forschungsverbund Südwest (2001a). Jugend, Information (Multi-)Media
2001. http://www.mpfs.de/projekte/jim2001.html
Oerter, R. & Montada,
L. (Hrsg.) (1995). Entwicklungspsychologie. München: Psychologie
Verlags Union.
Petry, J. (1996). Psychotherapie der
Glücksspielsucht. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
Petry, J. (1998). Diagnostik und Behandlung
der Glücksspielsucht. Psychotherapeut, 1, 53-64.
Petzold, M. (1999). Entwicklung und
Erziehung in der Familie. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
Petzold, M. (2000). Die Multimedia-Familie.
Opladen: Leske & Budrich.
Petzold, M. (2001). Internet - Suchtgefahr
für Jugendliche. Im Druck.
Scherer, K. (1996). College life on-line:
Healthy and unhealthy internet use. Journal of College Student Development,
38, 655-665.
Spanhel, D. (1990). Jugendliche vor
dem Bildschirm (2. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Statistisches Bundesamt
(Hrsg.). (1995). Im Blickpunkt: Familien heute. Stuttgart. Metzler-Poeschel.
Statistisches Bundesamt
im Internet: http://www.statistik-bund.de
Sülzle. A. (2001). Einsame neue
Welt? Einsamkeitsmythos und Alltagspraxis - kulturwissen-schaftliche Anmerkungen
zur Internetnutzung. Kommunikation@Gesellschaft, Jg. 2, Beitrag 1. http://www.uni-frankfurt.de/fb03/K.G/B6_2001_Suelzle.pdf.
Turkle, S. (1998). Leben im Netz.
Identität im Zeichen des Internet. Reinbek/Hamburg: Rowohlt.
Young, K.S. (1999). Caught in the
Net. Suchtgefahr im Internet. München: Kösel.